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STOFFE AUS DER NATUR

PFLANZENFASERN TEIL 2: LEINEN

TEXT: DR. SUSANNE NIEMUTH-ENGELMANN | FOTO (HEADER): © MARIA RAZ – stock.adobe.com

Auszug aus:

GARTENDESIGN INSPIRATION
Das Magazin für Gartengestaltung und Gartengenuss
Ausgabe 2|2019
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„Leinen knittert edel“ – mit diesem Werbeslogan eines deutschen Modeunternehmens sollten wir lange darüber hinweggetröstet werden, dass Leinen zwar viele positive Produkteigenschaften hat, aber eine ganz sicher nicht: knitter- und bügelfrei zu sein. Doch echte Leinen-Fans stört das wenig. Sie lieben die Natürlichkeit einer hochwertigen Pflanzenfaser, die im Sommer kühlt und überdies reißfest, robust und langlebig ist.

Leinen wird aus der Flachspflanze, dem Gemeinen Lein (Linum usitatissimum L.), hergestellt. Die uralte Kulturpflanze der Gattung Lein (Linum L.) in der Familie der Leingewächse (Linaceae) wurde auf dem Gebiet des heutigen Deutschland in Pfahlbauten der späten Steinzeit nachgewiesen, also rund 7.500 bis 4.200 v. Chr. Jüngeren Forschungen zufolge soll sogar schon in der frühen Steinzeit, weit mehr als 8.000 Jahre v. Chr., Leinen hergestellt worden sein. Verbürgt ist außerdem der Flachsanbau im alten Ägypten vor über 6.000 Jahren: Mumien wurden in Leinentücher gewickelt.

In Mittel- und Nordeuropa war Leinenherstellung in der frühen Eisenzeit (2.800 bis 2.000 v. Chr.) bekannt, und bei den Germanen wurde das Leinengewand in der Zeit der Völkerwanderung zur Volkstracht.

WERTVOLLE KULTURPFLANZE

Spätestens im Mittelalter wird Leinen im europäischen Kulturraum zu einem der wichtigsten Handelsgüter, ohne das zum Beispiel der Aufstieg der Fugger nicht denkbar gewesen wäre. Es ist nun eng mit dem Alltag der Menschen verbunden und begleitet ihn „von der Windel bis zum Totenkleid“ (Quelle: www.gesamtverband-leinen.de).

Viele Redewendungen, die in unseren Sprachgebrauch ganz selbstverständlich eingegangen sind, stammen aus dieser Zeit, etwa das „Durchhecheln“ eines Themas im Gespräch, also sein wiederholtes Bearbeiten von allen Seiten, ein Vorgang, der der Leinenproduktion entlehnt ist. Auch die „Fahrt ins Blaue“ gehört zu diesen festen Wendungen, über deren Herkunft wir uns heute meist keine Gedanken mehr machen. Ursprünglich war damit eine Fahrt zu den blühenden Flachsfeldern gemeint, die in prachtvollem Blau erstrahlen. Flachsblau eben. Die Wertschätzung des Gemeinen Leins und seine große Bedeutung als Kulturpflanze hängen unter anderem damit zusammen, dass all seine Bestandteile verwertet werden können. Schon in den frühesten Zeiten seines Anbaus wurde nicht nur Stoff aus seinen Fasern erzeugt, sondern auch wertvolles Öl aus seinen Samenkapseln gewonnen.

Leinöl gilt seit Jahrhunderten als besonders hochwertig und erlebt in der gesundheitsbewussten Ernährung unserer Zeit eine Renaissance, da es besonders reich an den wichtigen Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren ist. Darüber hinaus wurde es früher als Binde- und Konservierungsmittel eingesetzt, sowohl für Lebensmittel als auch für die in
der Kunstmalerei verwendeten Leinölfarben oder für Druckerschwärze.

VOM ANBAU ZUR ERNTE

Wohl nicht zuletzt, weil er ziemlich anspruchslos und sein Anbau daher recht einfach ist, konnte sich der Gemeine Lein in der Kulturgeschichte der Nutzpflanzen so überragend durchsetzen. Er stellt keine besonderen Anforderungen an den Boden; allerdings gilt es, Staunässe und Verschlämmung zu vermeiden. Andererseits muss eine gute Wasserversorgung (rund 120 Millimeter Niederschlag in der Hauptwachstumsphase im Mai und Juni) gewährleistet sein. Daher ist – trotz aller Anspruchslosigkeit – ein maritimes Klima dasjenige, das das Wachstum des Gemeinen Leins am stärksten begünstigt. So verwundert es nicht, dass sich einige der größten Anbauflächen in Westeuropa
finden: in Teilen Norddeutschlands, in Belgien, den Niederlanden und den Küstengebieten Nordfrankreichs. Frankreich ist der weltweit größte Leinenproduzent. Aber auch in Regionen mit Einflüssen kontinentalen Klimas wie Polen, Rumänien oder China wird Flachs angebaut.

Die einjährige Flachspflanze erreicht im Durchschnitt eine Wuchshöhe von 30 bis 120 Zentimetern. Ihre Stängel sind kahl, aber im Bereich der Blütenstände mit spitz zulaufenden, lanzenförmigen Blättern bewachsen. Die Aussaat der Pflanze erfolgt von März bis April. Von Juni bis August blüht die Pflanze, meist im charakteristischen Blau, seltener auch mit weißen oder rosafarbenen Blüten.

Als beste Erntezeit des Gemeinen Leins gilt der Monat September. Dann beginnen die Samenkapseln, sich gelb zu färben. Die Pflanzen werden mitsamt der Wurzel geerntet (Raufen nennt man das), damit die Fasern so lang wie möglich bleiben, und anschließend zu Bündeln zusammengefasst und auf dem Feld getrocknet.

Die Gewinnung der Faser aus der Flachspflanze sowie die Verarbeitung zum Endprodukt Leinen ist schon im Mittelalter ein stark ausdifferenzierter Arbeitsvorgang. Zwar wurde dieser im Laufe der Jahrhunderte mechanisiert – die großen Weberaufstände des 19. Jahrhunderts zeugen von den verheerenden sozialen Auswirkungen dieses
Prozesses –, doch die wesentlichen Produktionsschritte sind bis heute dieselben geblieben.

 

AUFWENDIGE VERARBEITUNG

Die als Ganzes geerntete Pflanze wird zuerst an der sogenannten Riffel bearbeitet, die aussieht wie ein großer, grobzinkiger Kamm. Indem die Pflanzenstängel, an der die Samenkapseln hängen, durch die Riffel gezogen werden, werden die johannisbeergroßen, gelblich-braunen Kapseln vom Stängel getrennt. Sie dienen als Leinsamen zur Ölherstellung und natürlich als Saatgut für die nächste Ernte.

Um an die Pflanzenfaser zu gelangen, wird anschließend der nächste Arbeitsschritt, das Rösten eingeleitet. Dieses hat nichts mit dem herkömmlichen Begriff des Röstens zu tun; weder Feuer noch Glut kommen hierbei zum Einsatz. Stattdessen meint Rösten in der Flachsverarbeitung eine künstlich eingeleitete Gärung. Feuchtigkeit und Wärme setzen einen Fäulnisprozess in Gang, der zu einem Pilzbefall führt, durch welchen sich schließlich die Pflanzenfaser vom übrigen Stängel löst.

Anschließend wird der Holzkern (Scheben) mit dem Flachsbrecher, einem großen hölzernen Messer, von der Bastfaser gelöst. Die Holzsplitter fallen durch mechanisches Bearbeiten der Faser aus dem Inneren heraus. Zurück bleibt die eigentliche Flachsfaser, die nun weiter bearbeitet wird. Dieses Isolieren der Faser von ihrem Holzkern wird als Brecheln oder auch als Schwingen bezeichnet, was auf die Armbewegung bei der Arbeit mit dem Flachsbrecher zurückgeht. Danach kämmt man die Faser mit der Hechel.  Erinnert die Riffel an einen Kamm, so sieht die Hechel aus wie eine Bürste, durch die das Faserbüschel hindurchgezogen wird, um letzte Holzreste zu entfernen. Zuerst kommt eine grobzinkige, danach eine feinere Hechel zum Einsatz, um ein geschmeidiges Faserbündel zu erhalten.

Diese Arbeitsschritte werden heute in modernen Schwingturbinen ausgeführt. Doch auch hier kann nicht auf anstrengende Handarbeit verzichtet werden, wenn am Ende des Prozesses eine hochwertige, feine Faser stehen soll.

 

LEINEN GESTERN UND HEUTE

Da Flachs eine ziemlich harte Faser ist, befeuchteten die Spinnerinnen früher ihre Fingerspitzen während der Arbeit immer wieder mit Wasser oder Kaffee, um so ein Wundwerden zu vermeiden. Heute wird der Faden mit modernen Spinnmaschinen hergestellt. Der natürliche Farbton des gewonnenen Garns ist beige-grau. Während man es früher entweder durch Sonneneinstrahlung bleichte, bis es weiß geworden war, oder mit Pflanzenfarben in andere Farbtöne einfärbte, wurden beide Vorgänge später durch chemische Verfahren ersetzt. Das Bleichen mit Chlor ist mittlerweile als ökologisch bedenklich erkannt und mindert zudem die Produktqualität, da es zu einem Gewichtsverlust des Stoffes führt. Auch das industrielle Färben von Stoffen, das dem natürlichen Färben mit Pflanzen folgte, ist durch möglicherweise eingesetzte Giftstoffe in Verruf geraten. Ökobewusste Konsumenten setzen darum auf ungefärbtes Leinen und/oder Öko-Siegel wie GOTS (vgl. GDI Ausgabe 1/2019, Kaleidoskop „Baumwolle“) oder Öko-Tex Standard 100, die zumindest garantieren, dass die Grenzwerte für gesundheitsgefährdende Chemikalien stets unterschritten werden.

Ob gefärbt oder naturbelassen: Zum Schluss muss das gewonnene Garn noch zu einem festen Stoff verarbeitet werden. Der einfache heimische Webstuhl wurde 1786 durch eine revolutionäre Entwicklung des Engländers Edmund Cartwright ersetzt. Cartwright erfand den mechanischen Webstuhl und schuf so die Grundlage, (gemusterte) Gewebe im Zuge der industriellen Revolution in großen Mengen zu produzieren. Auch die Leinenproduktion war betroffen.

Durch das Aufkommen der billigeren Baumwolle ging die Leinenweberei ohnehin seit Ende des 19. Jahrhunderts zurück und spielte nur noch eine Nebenrolle in der Textilindustrie des 20. Jahrhunderts. Erst in jüngster Zeit konnte wieder ein leichter Anstieg verzeichnet werden, nicht zuletzt durch die Europäische Union, die den Flachsanbau und die Leinenherstellung mit Fördermitteln wieder ankurbeln möchte.

 

… UND MORGEN?

Das Überleben der Flachsproduktion wird künftig allerdings nicht mehr nur von der Bekleidungsindustrie abhängig sein. Flachs ist, wie oben schon erwähnt, eine vergleichsweise harte Faser. Das macht sie robust und widerstandsfähig. Anders als man es bei einer solchen Produkteigenschaft aber vermuten würde, ist sie dennoch leicht.  Die seltene Verbindung dieser beiden Faktoren macht Flachs beziehungsweise Leinen zunehmend interessant für die technische Industrie. Bereits heute werden zehn Prozent der Produktion für technische Zwecke eingesetzt. In der Autoindustrie denkt man darüber nach, Glasfasern, die zum Beispiel für die Ausstattung von Kofferräumen verwendet werden, durch eine umweltschonende pflanzliche Alternative zu ersetzen. Französische Hersteller arbeiten daran, einen konkurrenzfähigen Verbundstoff aus Flachs für die Fahrzeugausstattung zu entwickeln.

Viele Sportgeräte wie zum Beispiel Skier werden schon heute mit Leinenfasern hergestellt, und auch in der Möbelindustrie experimentiert man mit neuen Verbundstoffen aus Flachs. Die Zukunft dieser außergewöhnlichen Pflanzenfaser scheint somit auch für das neue Jahrtausend gesichert – Leinen los!

 

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